Vestriell - Die Stadt der Hexen
Leseprobe
Ein fröhliches Hallo an all die glücklichen Auserwählten, die sich hierhin verirrt haben :)
Von mir höchstpersönlich bekommt ihr die Erlaubnis, eine Leseprobe zu lesen, BEVOR das Buch überhaupt veröffentlicht wurde.
Das hier sind die ersten zwei Kapitel von Band 1. Das kann ich mir leisten, weil das Buch nämlich insgesamt 66 Kapitel hat. Ja, diese Zahl ist zufällig entstanden, aber es gibt keine Zufälle.
Viel Spaß damit.
Bei Rückfragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen,
Josi Saefkow

1. Ein Augenblick der Unachtsamkeit
3.07.2013
„Bin gleich zurück, ok?“, sagte sie, schloss die Tür ab und nahm die Treppe nach unten.
Zehn Jahre. Kurze, blonde Haare. Braun-grüne Augen. Eine rote Schmetterlingskette. Ein niedliches weißes Kleid. Barfuß, denn sie hasste es, Schuhe zu tragen. Zudem war es Sommer und sie schwitzte enorm. Obwohl Mivee [Miw-wie] dafür oft Mecker bekam, wenn sie andauernd mit dreckigen Füßen durch die Wohnung tapste und sie diese nicht oft genug wusch, tat sie es trotzdem, auch draußen. Vor allem dann, wenn die Eltern nicht da waren. Die Mutter war auf Arbeit, der Vater zur Post. All sein Vertrauen hatte er ihr gegeben, auf ihre sieben Jahre jüngere Schwester aufzupassen. Es waren bloß wenige Minuten, in denen er weg war, um ein Paket wegzubringen. In höchstens einer viertel Stunde wollte er zurück sein. Es war noch nie etwas passiert, warum sollte es das jetzt?
Mivee watschelte nach unten, wobei man ihre klatschenden Füße auf den kalten Treppenstufen hörte. Sie wollte dem Hasen des Nachbarn Salatreste bringen, dessen Käfig vorm Wohnkomplex stand. Es war bloß ein kurzer Moment, und der wurde länger als geplant. Fünf Minuten stand Mivee dort und beobachtete den flauschigen Vierbeiner wie hypnotisiert. Sie liebte es, ihm beim Fressen zuzusehen, und dabei quatschte sie ihn voll. Es war ihr egal, ob er sie verstand, Hauptsache sie redete. Doch dann… tja, dann fiel ihr ein, dass sie umkehren musste. Das Kind war sowas von genervt von der Tatsache und wäre am liebsten dort geblieben. Leider hatte Mivee ihrem Papa versprochen, aufzupassen.
Laut seufzend drehte sie um, trat durch die Haustür und trampelte nörgelnd nach oben, wobei sie ein Geräusch vernahm, das sie gar nicht kannte. Sie verstand es nicht, war neugierig, allerdings glaubte sie, nicht zu erfahren, was es damit auf sich hatte. Sicherlich kam es von irgendeinem Nachbarn. Irgendein technisches Gerät, was nicht funktionierte.
„Ich frag später mal nach“, dachte sie sich.
Mit jeder Stufe wurde es lauter. Diesem lauten, unangenehmen Piepen, was unmöglich zu ignorieren war, kam sie also entgegen und es verwirrte sie immer mehr. Fast im dritten Stock angekommen, blieb sie stehen, zog grübelnd die Augenbrauen herunter. Dieser Geruch… und dieses Piepen… kamen direkt aus der eigenen Wohnung?
„Hä?“ Mivee nahm die letzten Schritte, schloss die Tür auf, und der Gestank drang tiefer in ihre Nase. „Was? Hä?“
Es stank nach Qualm. Sie schaute hinein. Helles, gelbes Licht: ein Schrank brannte. In Sekunden breiteten sich die Flammen im Schlafzimmer der Eltern auch im Flur aus. War das ein Traum?
Voller Angst und kurzzeitig bewegungslos starrte Mivee ins Feuer und dachte an Sceya [Skäi-ja]. Sie sprang in die Wohnung, rief ihren Namen, rannte nach rechts durch den Flur und sah die Dreijährige in der Küche stehen, die sich weinend beide Ohren zuhielt.
Zwangsläufig hüpfte Mivee barfuß an den Flammen vorbei, welche den halben Weg zu ihr versperrten. „Sceya, Sceya, wir müssen hier raus!“
Das kleine Kind hörte nicht, sondern lief in Panik nach links in die Stube. Mivee wollte sie greifen, Sceya wich aus, rannte in die hinterste Ecke des Zimmers, wo sie stehenblieb. Dieses Piepen verstand sie nicht, sie fürchtete sich vor dem Geruch und vor dem grellen Licht, das in den Augen brannte.
Sogar Mivee hatte es schwer, ihren Mut zu behalten. Klar denken, war nicht möglich. „Ok, ok, bleib hier stehen!“, rief sie und rannte zurück.
Das Feuer blendete und raubte ihr den Atem, weshalb sie zu husten begann. Der Weg zur Tür, der einzige Ausgang, war versperrt, weil der Teppich längst brannte und die Hitze verteilte. Mivee stand dort, blickte hin und her, fand aber keine Lösung. Sie war überfordert. Niemand hatte ihr je erzählt, was in solch einem Fall zu tun sei. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie schwitzte. Sie zitterte. Sie erschrak. Ein Bild fiel von der Wand, das Glas zersprang. Lautes Knistern drang aus dem Schlafzimmer. Der Brand zerfraß die Möbel.
Danach ein Gedanke: das Telefon. Es lag auf dem Tisch in der Küche. Mivee hastete dorthin, wählte die erste eingespeicherte Nummer, eilte zum Fenster, öffnete es und schmiss dadurch die drei Topfpflanzen, Kerzen und allerlei Dekorationen vom Fensterbrett herunter. Mit dem Oberkörper neigte sie sich nach draußen, um endlich Luft zu bekommen. Das Mädchen musste wenige Sekunden warten und jede davon fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Sie geriet noch mehr in Panik, als sie die weibliche Stimme am Ohr hörte.
„Feuer- und Rettungsleitstelle. Wo ist der Notfallort?“
Mivee stotterte und wusste nicht, was sie als erstes sagen sollte. „Wir ähm, wir-wir haben… es… hier…“
„Bleib ruhig, Kleine! Sag mir…“
„Ich kann nicht, ich… Wir brauchen-b-brauchen Hilfe, ganz schnell!“ Sie hustete zweimal.
„Was ist passiert?“
„Es brennt hier zuhause“, antwortete sie.
„Wie viele Personen sind in Gefahr?“
„Ich und meine kleine Schwester.“ Mivee schwitzte, fasste sich ständig an die Stirn. Ihre Kopfschmerzen wurden stärker. Immer wieder guckte sie zum Flur und in Sceya’s Richtung, und hielt eine Hand an ihren vor Furcht grummelnden Bauch.
„Sag mir, wer und wo du bist!“
„Ich-i-i-ich bin Mivee, ich bin zuhause. Ich, ähm, Mühlen… Mü-mühlenstraße zwölf… Nummer 31, nein 32, wir… uns-unsere Wo-Wohnung brennt. Bitte helft uns!“ Wegen des Feuermelders und dem eigenen Husten hörte sie die nachfolgenden Worte der Frau nicht. „Kommt schnell!“
Mivee konnte nicht länger nichtstuend am Fenster stehen, sie legte das Telefon auf den Tisch und hatte nur ein Wort im Kopf: Feuerlöscher. Sie allein wollte das Feuer löschen, dachte stark nach, bis ihr einfiel, wo er war: beim Eingang. Doch der Brand hatte sich bis zur Küche ausgebreitet und die Decke loderte hell. Es war schwer, dem tödlichen Licht auszuweichen und trotzdem sah Mivee keine andere Wahl. Sie brauchte dieses Ding, hatte bloß diese Chance und musste sie nutzen. Sie wollte nicht rumsitzen und warten, bis die Feuerwehr da ist. Bis dahin könnte es zu spät sein. Sie musste es versuchen.
Bei jedem Einatmen wurde ihr schwindeliger, es tat weh. Ihre Ohren schmerzten aufgrund des lauten Piepens direkt über ihr. Sie war durchnässt. Ihr Schweiß tropfte ihr vom Gesicht. Ihr Schädel dröhnte. Die Wohnung war in grauen Rauch gehüllt. Und dennoch rannte sie durch den Hausflur, mit einer Hand vor der Nase, hin zum Schrank, sprang über eine Flamme hinweg und in einen kleinen Bereich, der noch sicher erschien. Doch der Schrank… er brannte längst. Mivee hätte diesen nicht öffnen können, ohne sich zu verbrennen. Mit einem Schmerz in der Brust drehte sie sich um und wollte zurück ins Wohnzimmer, zu ihrer Schwester.
Sie hustete mehr und mehr. Mivee versuchte, ihren Atem anzuhalten, aber hielt nicht lange durch. Ihre Sicht wurde schwummeriger. Keinen Atemzug schaffte sie mehr, ohne zu husten. Ihre Lunge brannte. Sie fühlte sich schwächer. Alles war grau.
Mivee dachte lediglich an Sceya, wollte zu ihr. Das Leben ihrer Schwester war ihr wichtiger als ihr eigenes. Rufen konnte sie nicht, da sie keine Luft bekam. Auf wackeligen Schritten ging sie durch den brennenden Flur, bahnte sich einen Weg durch die stetig wachsenden Flammen. Ihre Hand war zu schwach, um sie weiterhin schützend vor der Nase zu halten. Trotz der Helligkeit des Feuers, wurde es dunkler. Das Piepen wandelte sich in ein tiefes Dröhnen, bis die Geräusche völlig erloschen. Mivee fühlte sich, als würde die Erde sich langsamer drehen, wie eine Zeitlupe.
Schließlich wurde ihre Welt schwarz. Den Boden unter ihren Füßen spürte sie nicht mehr. Sie schaffte es nicht einmal in Gedanken, den Namen ihrer kleinen Schwester auszusprechen.
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Stille. Schwierig, die müden Augen offen zu halten. Als hätte er Jahre geschlafen. Er war schwach, dachte an nichts. Sein Kopf war leer. Alle Erinnerungen waren verblasst. Wo er war, hinterfragte er nicht. Stockduster war es hier. Mit einer Hand streifte er am Boden entlang und spürte etwas seltsam Weiches. Er lag auf warmem Fell.
Jede Bewegung war eine Last. Er war wie eingefroren. Einerseits wollte er aufstehen, andererseits wollte er liegenbleiben. Auf die linke Seite drehte er sich und zitterte vor Anstrengung, als wären all seine Muskeln verkümmert.
Die Erde bebte. Unmöglich, das Geschehen zu begreifen. Unter ihm wuchs der braune Pelz in die Höhe und das Fell gegenüber verformte sich zu einer irrealen Gestalt. Eine Gestalt mit gewaltigem Geweih, an welchem mehrere Traumfänger baumelten. Es war der riesige Kopf eines Elches, der aus dem Boden erschien und ihn brummend anstarrte. Die drei Augen erleuchteten den Raum in hellblauer Farbe.
Wegsehen konnte er nicht von diesem Lichtschein, der ihn blendete. Seine Lider fielen automatisch wieder zu.
2.Begegnung mit dem Tod
2.05.2027 Sonntag
Mit dem Füller malte Sceya einen Blitz, vier Zentimeter lang, bis zum Rand des Papiers, anstatt das Wort zu Ende zu schreiben. Dieses verdammte Radio! Es war nicht das erste Mal, dass es von alleine anging. Sie stand auf, machte es aus, zog den Stecker raus und überlegte, es endlich wegzuschmeißen. Es machte ihr Angst, obwohl es lediglich ein technischer Fehler war.
Das Mädchen wollte sich gerade setzen und weiter an ihren Hausaufgaben arbeiten, da öffnete ihr Vater Grèo die Tür, mit einer seltsamen Vorsicht…
Schüchtern schaute er zu seiner Tochter, um dann den Kopf zu senken und leise und gequält zu sagen: „Wir fahren nachher doch nicht.“ Sceya hörte sein schweres Ausatmen. „Oma ist im Krankenhaus gestorben.“
Ein leises: „Was?“, drang ihr während dieser schrecklichen Stille aus dem Mund.
Greo drehte sich weg, Sceya fiel herab auf ihren Stuhl. Das Weinen konnte sie nur hinauszögern und nicht verhindern. Als sie realisierte, was sie soeben aus seinem Mund zu hören bekam, konnte sie den Kampf mit den Tränen nicht mehr gewinnen.
8.05.2027 Samstag
Ihr Opa lud sie ein. Er wollte Dinge loswerden, die er nicht mehr brauchte, und zeigte seiner Enkelin außerdem die vielen Bücher seiner verstorbenen Frau.
„Nimm erstmal mit! Kannst es immer noch wegwerfen.“
In Wahrheit konnte Sceya nichts davon gebrauchen, wollte jedoch nicht unhöflich sein. Sie las nie, abgesehen von den Büchern, die sie für die Schule lesen sollte.
Nun saß sie in ihrem Zimmer, auf ihrem Bett mit roter Decke. In ein paar der Bücher schaute sie hinein, sortierte sie. Sie wollte nichts wegschmeißen, obwohl kein Platz mehr dafür war. Sie lagen auf dem Nachttisch und neben ihrem Bett auf dem Boden.
Die Wände ihres Zimmers waren voller Bilder und Plakate, Fotos von Tieren, Filmen, Videospielen oder Drachen, Postkarten, Poster, um irgendwie diese hässliche Farbe zu überdecken, damit es nicht mehr so langweilig aussieht. Sie wollte es bunter und liebte es, sich die Bilder anzuschauen. Diese nahm sie nie ab, sondern sammelte stattdessen weitere. Ein Psychologe hatte damals dazu geraten, in welcher Farbe ihr Kinderzimmer gestrichen werden sollte: Kackbraun. Sceya verstand nie, wieso. Und trotzdem hatte die Farbe die Wirkung, die sie haben sollte. Es wirkte gemütlicher, ruhiger, naturverbundener, wie eine Höhle. Man konnte besser entspannen, wobei das neben den vielen Hausaufgaben und Tests schlicht unmöglich war.
Wäsche lag auf dem Boden neben dem vollen Wäschekorb. Ihr Zimmer, typisch für Mädchen, war geschmückt mit Lichterketten und einer Girlande von einer Ecke zur anderen, woran seit zehn Jahren schlecht ausgeschnittene Schmetterlinge in den Farben Blau, Grau und Gold hingen. Ein eingestaubter und somit angegrauter Fake-Efeu baumelte vom Schrank hinter ihr. Holzfußboden. Der Teppich neben dem Bett und der Drehstuhl galten als orangene Akzente. Ein Kalender neben der Tür, den sie seit Januar nicht mehr umgeblättert hatte. Dafür hatte sie einfach keine Zeit! Die elfte Klasse war zu stressig. Merchandise-Figuren standen auf den Regalen und im Schrank. Hier und da fand man Hüllen für Videospiele. Sie liebte es zu zocken. Ihr einziges Hobby, ihre einzige Freizeitbeschäftigung, sollte sie nicht hin und wieder einkaufen gehen oder sich mit ihren wenigen Freundinnen treffen, von denen sie zwei aus der Schule kannte, eine aus der Physiotherapie und eine aus dem Krankenhaus, die einst neben ihr im gleichen Zimmer lag. Mit der einen schrieb sie sich selten, mit der anderen traf sie sich alle paar Monate, und die aus der Schule sah sie fast ausschließlich dort. Sceya war nicht sehr kommunikativ, das war sie noch nie. Sie brauchte immer zu lange, um unter Fremden aufzutauen, in ein Gespräch zu geraten oder sich zu öffnen. Nie war sie die Erste gewesen, die fragte, ob man sich mal treffen möchte.
Das Mädel holte sich was zu trinken und hörte aus dem Büro ihres Vaters, wie er eine neue Dose Energydrink öffnete, weil seine Tür um einen Spalt offen war. Einige Bücher stellte sie bei sich ins Regal, auch wenn viele ihr nicht zusagten. Aber was sollte sie tun? Sie wegschmeißen? Das hätte sie nicht übers Herz gebracht. Es waren schließlich die Bücher ihrer Oma gewesen. Mehrere von denen handelten über Krankheiten und welche Hausmittel oder Kräuter dagegen helfen sollten. Alternative Heilmethoden, die fast magisch wirkten. Irgendwas über die Tierwelt, etliche Märchen, Liebesromane, Lexika… Sceya wusste nicht, wohin mit den ganzen Büchern. Ihre Schränke waren voll und ihr Zimmer war zu klein. Irgendwo und irgendwann hätte sie den Platz finden müssen, doch nun musste erstmal der arme Fußboden dafür herhalten.
29.05.2027 Samstag
Etwa vier Wochen nach ihrem Tod war die Beerdigung. Bald hätte Sceya niemanden mehr, dachte sie sich. Bald sei sie allein, angefangen mit Mivee… Mehrfach brauchte sie ihr Asthmaspray, um sich zu beruhigen, um die Traurigkeit herunterzuschlucken und um nicht zwischen ihren Familienmitgliedern laut zu weinen. Es war ihre erste Beerdigung. Bei der von Mivee war sie nicht dabei. Zu der Zeit lag Sceya über viele Wochen im Krankenhaus.
Alle waren still. Auch der Fernseher war aus. Die kleine Familie, bestehend aus drei Personen, saß am Esstisch. Alle waren mit ihren Gedanken alleine.
Diese Frage zu stellen, hatte Sceya seit Jahren nicht mehr gewagt: „Glaubt ihr an Geister?“
Greo hörte auf zu essen, senkte die Hand und spannte seinen Körper an. Mutter Ira schluckte, schaute auf ihr Brötchen und dachte anscheinend nach. Auch Sceya bekam keinen Bissen herunter.
„Ich weiß es nicht“, sprach Ira. „Ich weiß nicht, was nach dem Tod passiert. Ich würde jedenfalls gerne dran glauben, dass… sie…“ Sie atmete ein. „Dass sie noch irgendwie unter uns ist.“
Während sie an ihre eigene Mutter dachte, war ihr Mann gedanklich woanders. Er ballte eine Faust, legte die Stulle auf seinem Brett ab.
„Sie ist sicherlich noch da oben, guckt auf uns runter“, ergänzte sie, um ihre Tochter zu beruhigen. Sie zwang sich zu lächeln. „Sie wird sicherlich da…“
„Sie ist WEG!“, brüllte Greo. „WEG!“ Er drehte sich zu seiner Frau. „Es gibt kein Danach. Geister sind ein Märchen. Sie ist TOT, Sceya.“ Hasserfüllt starrte er sie an. „Es gibt keinen Himmel. Sie ist kein Geist. Nur noch ein Haufen Asche, DAS ist sie!“
Beide verstanden in dem Moment, dass Greo von Mivee sprach, da die Großmutter nach ihrem Tod nicht eingeäschert wurde.
Vor Wut wurde er rot, gleichzeitig erkannte man die Trauer in ihm, die er durch den Zorn zu verbergen versuchte. Mit dem Stuhl rückte er nach hinten, stand auf und warf durch das aggressive Tischwackeln aus Versehen seinen halben Energydrink um, was er ignorierte und sich stattdessen mit lautem Türknall in sein Büro verzog. So laut, dass es die Nachbarn hören konnten.
Die zwei Frauen blieben ganz still. Während Ira das Getränk aufwischte, schaltete Sceya den Fernseher ein. Eigentlich schaute sie nicht hin, wollte sich lediglich ablenken und das funktionierte nicht. Sie aß kaum etwas, konnte nicht aufhören zu denken. Ihre Mutter merkte bereits, dass ihre blauen Augen immer feuchter wurden. Ira legte eine Hand auf ihren Arm.
Nein, das hielt Sceya nicht aus. Lieber flüchtete sie in ihr Zimmer, schmiss sich aufs Bett und wusste nicht, dass die Tür nicht ganz geschlossen war. Somit hörte ihre Mama ihr Weinen und kam nach wenigen Sekunden vorsichtig herein. Sceya zwang sich, leise zu werden, nutzte ihr Asthmaspray und setzte sich auf, nachdem Ira sich neben sie setzte. Sie strich ihrer Tochter über den Rücken und fand neben ihr das Fotoalbum, welches aufgeschlagen war und Bilder von Mivee offenbarte.
Vorsichtig lehnte Sceya sich an ihr an und traute sich zu sagen: „Sie fehlt mir so… Und dabei kenn ich sie gar nicht.“
Beide blieben für etwa zwanzig Sekunden still. Diese Berührungen ihrer Mutter entspannten sie ein bisschen.
„Weißt du…“, sagte Ira bald mit ruhiger Stimme. „Sie war… naja, sie war ein echtes Plappermaul. Sie wollte gar nicht aufhören, wenn sie einmal anfing.“
Sceya schniefte, wischte sich die Tränen unter ihrer Brille mit einem Taschentuch fort.
„Musste immer ihre Meinung abgeben. Sie war lebhaft, steckte voller Energie. Es war schwer, sie überhaupt ins Bett zu kriegen.“ Sie lachte. „Und dich hat sie geliebt. Sie nahm dich immer an die Hand, wenn wir unterwegs waren. Sie hat auf dich aufgepasst, brachte dich ins Bett und las dir Bücher zum Einschlafen vor, hat mit dir gespielt und freute sich soo, dich zu sehen, wenn sie aus der Schule nach Hause kam. Sie liebte ihre kleine Schwester, hatte sich immer eine gewünscht. Und sie war ein richtiges Papakind. Immer nur Papa. Immer nur er. Sie wollte nur ihn. Wenn was war, rief sie ihn, nicht mich. Er sollte helfen kommen. Sie konnte gar nicht ohne ihn. Weißt du, sie war richtig eifersüchtig, wenn wir Händchen gehalten haben. Sie wollte ihn nur für sich. Sie war mal verwirrt, als er rasiert war“, lachte sie. „Schon als kleines Kind hatte sie im Bett dicht neben ihm geschlafen. Hat immer viel mit ihm gespielt. Und es nervte ihn manchmal, nie seine Ruhe zu haben. Dauernd war sie da und redete und wollte beschäftigt werden. Er durfte nie stillsitzen. Saß er nach der Arbeit auf der Couch, wollte nur mal kurz Kaffee trinken, nein, das ging nicht. Sie war da, sprang auf ihn drauf. Sie hat es geliebt, ihn zu ärgern.“ Dass Ira mit den Tränen kämpfte, ließ sie sich nicht anmerken. „Sie hatte schon ganz früh so viel zu erzählen. Als sie noch gar nicht sprechen konnte, brabbelte sie ständig. Hauptsache irgendwas kam aus ihrem Mund.“
Ein kleiner Tropfen wanderte an Sceya’s Wange entlang, hin zu ihrem Kinn und tropfte ihr aufs Knie.
„Und wir sollten immer genau zuhören. Als sie noch kleiner war, mussten wir immer zu ihr gucken, immer nicken oder Ja sagen, wenn sie geredet hat, sonst dachte sie, wir hören nicht zu.“ Man hörte ihre Trauer. „Und sie telefonierte viel, manchmal Stunden. Mit ihren Freunden, mit Oma, Opa… Und die Nachbarn blieben auch nicht verschont. Sie quatschte jeden voll, den sie getroffen hat. Aber wenn jemand mit ihr reden wollte, hat sie fast nicht zugehört, konnte sich fast nie auf Gespräche konzentrieren, wenn ein anderer redete. Ihr wurde schnell langweilig. Und wenn jemand einer anderen Meinung war… dann diskutierte sie ewig, wollte immer Recht haben.“ Ira schluckte und spürte, wie das Kratzen in ihrem Hals stärker wurde. „Sie ließ andere nicht immer ausreden, quatschte mitten ins Wort rein. Ja… sie war… sie war schon was Besonderes, das stimmt…“
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Langsam kam er zu sich. Die Augen waren offen. Ein paar Stunden saß er da, tat nichts, bewegte sich kaum. Ewig hatte es gedauert, bis es ihm gelang, sich aufzusetzen. Der Boden, auf dem er lag, war nun hart und kalt wie Stein. Er fühlte sich, als würde er noch immer schlafen. Doch er wollte endlich aufstehen. Er wollte nicht schlafen.
Taumelnd bewegte er sich durch die Finsternis. Es gab keine Tür, kein Fenster, nur eine steinige Mauer um ihn herum. Und dennoch gelang es ihm, hinaus zu kommen. Was er tat, wusste er nicht, aber er war plötzlich auf der anderen Seite der Wand gewesen. Er dachte nicht nach und fragte sich nicht, was er hier fand. Links führte die riesige Wendeltreppe nach oben, rechts ging es hinunter. Eine Frau, ein Mann, beide hohen Alters, unterhielten sich unten, von wo hellblaues Licht kam. Er stützte sich am Geländer und schaute hinab, konnte es jedoch nicht begreifen. Zwei haarige, braune Hälse ragten von der fünfzig Meter hohen Decke herunter. Die beiden Köpfe flüsterten. Diese Gegend sah aus wie ein Tempel. Säulen, die alles festhielten. Verzierungen. Prächtige Kerzenleuchter. Nach unten hin war fast alles mit Fell bewachsen. Und es war eisig kalt.
Jeder Schritt kostete Kraft, so viel wie nie. Er schlich hinauf, machte keinen Mucks. Eventuell war es der einzige Weg, der ihn hier herausbringen könnte. Oben angekommen, verließ ihn die Kraft. Zu verlockend war es gewesen, die Augen zu schließen. Die Lider waren schwer. Es zog ihn zu Boden. Er wollte sich nur kurz hinsetzen und schlief für zehn Stunden ein.
Nach dem Aufwachen brauchte er eine weitere Stunde, um „wach“ zu werden. Wie schlafwandelnd ging er höher, zur obersten Ebene. Es gab kein Tor, keinen Ausgang. Hier war nichts. Er wusste, er muss hier raus, in die Freiheit. Also blickte er an die Decke. Er dachte nicht darüber nach, wie es passierte, wieso er es konnte, und trotzdem passierte es. Nach dem Anblick verschiedener Farben und einem Gefühl der Schwerelosigkeit, steckte er auf einmal mitten im Wasser. Den Atem hielt er an, sah sich um. Mit Mühe an der Oberfläche angekommen, holte er tief Luft und trieb fast bewusstlos über das Wasser, wobei die seichte Strömung ihn herüber zu einer Insel brachte. Um beim Ufer anzukommen, musste er ein paar Meter selbst schwimmen.
Dort auf dem Sand blieb er liegen. Es war ein enormer Kraftakt, hier anzukommen, um sich ausruhen zu können. Er atmete schwer, wusste nicht, was er tun sollte, wusste nicht einmal, wer er ist. Mit dem Blick zum Sonnenuntergang verfiel er erneut in den Schlaf.
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Mivee stieg aus dem Auto aus. Sceya wusste, dass es ihre Schwester ist, obwohl sie nicht so aussah, weil sie das Gesicht einer Klassenkameradin trug, die deutlich älter war.
Und dennoch rannte Sceya zu ihr hin. „Mivee? Hä? Aber du… warst doch… Wo warst du?“
„Wieso weißt du wieder von nichts?“, brummte ihr Vater.
„Sie ist doch tot?“
„Wieso sollte sie das? Hörst du denn nie zu?“
„Aber sie war tot!“ Sceya lief das Wasser an den Wangen entlang.
„Ach was!“
„Das kann doch nicht sein, dass sie plötzlich wieder lebt!“
Schon im Traum heulte sie ununterbrochen. Keiner hörte hin. Mivee achtete ebenfalls nicht auf sie. Keiner tröstete Sceya oder nahm sie ernst. Sie stand neben allen und weinte laut, ohne dass sich einer nach ihr umdrehte.
Dann wachte sie auf und fragte sich, wieso es immer so ein Traum sein muss. Andauernd träumte sie davon, dass Mivee noch lebt, dass sie sie mitten auf der Straße trifft, in der Schule oder im eigenen Kinderzimmer. Jedes Mal war ihr Gesicht entweder verschwommen oder war das eines anderen. Dass sie sich ihr Äußeres nie richtig einprägen oder vorstellen konnte, machte Sceya traurig. Sie kannte Mivee bloß von Fotos und Videos. Wenn sie sie wenigstens in ihren Träumen sehen könnte…
Die Ursache des Brandes wurde nie geklärt, allerdings hatte sie ihre Eltern sagen hören, dass sie damals viel und gerne mit dem Feuerzeug gespielt hatte und dass sie dieses vor ihr immer verstecken mussten. Als sie das hörte, verfiel sie wochenlang in tiefer Trauer. Sceya befürchtete, sie allein sei schuld an dem Tod ihrer großen Schwester. Da war die Angst, ihre Eltern würden ihr die Schuld zuschieben. Diese Befürchtungen ließen sie nicht los. Noch nie hatte sie das gegenüber Psychologen angesprochen.
Sceya schaffte es nach einer Stunde, einzuschlafen und wurde erneut von Albträumen geplagt.
„Du hast sie umgebracht, Sceya!“
Immer wieder dieser Satz. Greo und Ira brachten sie im Traum zum Weinen, und auch nach dem erneuten Aufwachen konnte sie nicht aufhören. Es war nicht nur ein Traum…
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Er lag noch auf seinem Fleck. Diese Müdigkeit war unerträglich gewesen. Aber er wollte nicht länger schlafen, wollte wach bleiben. Er hatte Angst, wieder zu träumen…
Als er aufstehen wollte, wurde ihm schwummerig dabei. Er hielt sich an dem Baumstamm fest, der neben ihm lag. Seine Beine zitterten vor Anstrengung. Stehen zu bleiben, schaffte er nicht. Ihm wurde übel und er sank hinab auf den Sand. Er brauchte mehr Zeit. Mehr Zeit, um wach zu werden, um bald aufstehen zu können. Eine Stunde saß er da, kämpfte gegen diesen monströsen Schlaf an. Auch wenn seine Kraft gering war, sie hätte ihn direkt wieder verlassen, wäre er nochmals eingeschlafen.
In den sterneüberfluteten Himmel schauend, dachte er an nichts, genoss einfach den Anblick des Mondes, der Berge, des großen Sees, in welchem sich das Mondlicht spiegelte. Etwas Helles schimmerte durch die Bäume hinter ihm, brennendes Licht aus den wenigen Häusern. Keiner der hier lebenden Menschen fand ihn hier sitzen. Selbst wenn, wäre es ihm egal gewesen. Im Moment war ihm alles egal. Er hatte nur eines ganz fest im Blick: endlich aufstehen zu können.
30.05.2027 Sonntag
Sceya lenkte sich mit lustigen Videos ab und es klappte, wenn sie sich darauf konzentrierte. Sie konnte lachen, konnte vergessen.
Nach dem Mittag pflanzte sie sich mit der Konsole auf ihr Bett, drehte den Sound auf und hörte somit nicht die Rufe des Vaters.
Der musste extra zu ihr trampeln, riss die Tür auf und schrie sie voller Wut an: „Wieso hörst du immer nicht? Kannst du nicht das blöde Ding leiser machen? Wenn man schon mal ruft! Ich muss weg, zu Opa! Pass auf, wenn’s klingelt!“ Er klatschte das Festnetztelefon auf ihren Schreibtisch und ging schnell weg. Man konnte seinen Groll deutlich spüren.
Sceya, die solche Situationen gewohnt war, kam diesmal nicht damit klar. Dieses Geschrei haftete in ihren Ohren. Die Konsole legte sie beiseite und drückte ihr Gesicht gegen ihre Knie. Ihr Körper machte es von alleine. Sie hoffte, dass ihr Vater schon weg war und nicht hörte, wie sie weinte. Das Weinen führte zum Hustenreiz.
Zwar kam sie im Feuer mit dem Leben davon, trug dafür allerdings Brandnarben, hatte Asthma und lebenslange psychische Probleme. Schon als Kind musste sie ständig zum Psychologen rennen, um es irgendwie zu verarbeiten. Eine Ewigkeit lag sie im Krankenhaus, musste Jahre später oft zum Arzt wegen ihrer Narben und ihrer Lunge. Es war ein Wunder, dass sie das überhaupt überleben konnte.
Die Ärzte sagten häufig: „Du musst wohl einen Schutzengel gehabt haben.“
Sceya wollte nicht mit anderen darüber reden. Sie war nicht so offen mit ihren Gefühlen. Vielmehr war es ihr peinlich. Lieber versteckte sie ihre Emotionen, wollte generell nicht im Mittelpunkt stehen. Ein zweites Taschentuch nahm sie in die Hand. Sich zu entspannen, war nicht leicht. Schon aufgrund der Träume fing der Tag schlimm an. Sie brauchte etwas, um sich zu entspannen. Also sah sie herüber. Auf dem Fensterbrett lag ein Plüschtier, ein Maulwurf, den sie damals nach einer OP von ihrer Oma bekam. Er trug Sceya’s alte Kopfhörer.
Sie hatte immer im Hinterkopf, wie eine Mitschülerin letztes Jahr zu ihr sagte: „Du siehst aus wie ein Maulwurf.“
Seitdem dachte sie jedes Mal daran, wenn sie das Kuscheltier sah. Sie verstand nicht, wieso dieses Mädchen es gesagt hatte, es kränkte sie irgendwie und dennoch wollte sie das künstliche Tier da sitzen lassen. Früher hatte ihre Oma Sceya damit beruhigen können, wenn sie Angst hatte.
„Alles ist gut, kleine Sceya.“ Die alte Dame hielt den Maulwurf in der Hand und duckte sich, sodass das Kind sie nicht sehen konnte. Diese Sätze konnte Sceya nie vergessen. Noch heute beruhigten diese sie. Sie stellte sich vor, wie das Kuscheltier mit der gesenkten Stimme ihrer Oma sprach. Es half ihr, runterzukommen. Und dabei hoffte sie immer, niemand würde je erfahren, wie… kindisch… sie sich verhält…
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Es war wieder passiert. Er konnte nicht verhindern, dass seine Äuglein zufallen. Nun war es mitten am Tag, die Sonne schien hell, die Bäume spendeten Schatten. Schlafen wollte er nicht, musste dringend etwas gegen die Müdigkeit tun. Auf allen Vieren kroch er die drei Schritte zum Wasser und tauchte mit dem Kopf unter, in der Hoffnung, dadurch munterer zu werden, und es klappte nur spärlich. Er fragte sich, wo seine Kraft nun sei. Erinnern konnte er sich zwar nicht, aber er wusste, dass er vorher stärker war.
Es dauerte. Erstmal setzte er sich auf, stützte sich an dem großen Stein, legte sich bald mit dem Oberkörper darauf und musste nach dem Akt erstmal verschnaufen. Seine Muskeln zitterten. Er stellte sich auf die wackeligen Beine, wollte ein paar Schritte gehen. Ihm wurde schwarz vor Augen, er verlor das Gleichgewicht und stürzte. Wie hatte er es geschafft, überhaupt zur Insel zu kommen? Die Energie, die er gehabt haben muss, war nun gänzlich fort.
Er saß da, atmete tief durch und erschrak, als eine Kreatur aus dem See auftauchte. Zuerst sah er den Kopf, Schuppen. Das Etwas schwamm näher, kam ans Ufer gekrochen, schaute ihn beständig an. Auf seinen vier Gliedern kroch es wie eine Schildkröte zu ihm. Ein Segel auf dem Rücken. Helle, blaue Augen, nahezu menschlich. Die Flossen an seinem Kiefer bewegten sich. Barthaare wie ein asiatischer Drache. Vier Meter hoch.
Das Wesen kam ihm immer näher und er blieb sitzen, schließlich hätte er eh nicht fliehen können. Angst hatte er keine. Er dachte nicht darüber nach, was es war oder was es wollte. Es schaute ihn lediglich an, wobei die Augen leuchteten. Und er wusste nicht, was passierte, allerdings fühlte er sich auf einmal besser. Neue Lebenskraft durchströmte seinen Leib.
Die Kreatur beobachtete ihn, während ihr Gegenüber endlich aufstand und die ersten richtigen Schritte gehen konnte. Er fühlte sich wie neugeboren. Wie ein neuer Körper. War das überhaupt sein Körper? Wer war er? Wieso schlief er in diesem dunklen Raum? In dem Moment erinnerte er sich nicht einmal mehr an den Elch, der ihn vor acht Jahren nach dem erstmaligen Aufwachen eingeschläfert hatte. Er dachte nicht nach, ließ alles auf sich zukommen. Er lebte im Jetzt, wie ein Tier. Schritt für Schritt wanderte er am Strand entlang. Er fühlte sich gesünder, die Kopfschmerzen waren fort, wie Zauberei… Links erblickte er die fremde Stadt in der Ferne. War er bereits hier gewesen? Kannte er den Namen des Ortes? Fragen, die er sich alle nicht stellte.
Gegenüber der Insel war das Festland. Dort drüben waren keine Häuser, sondern Bäume, Hügel. Dort wollte er hin. Er stieg ins Wasser, ging immer weiter, bis er anfing zu schwimmen. Circa zwei Kilometer hätte er zurücklegen müssen. Konzentriert starrte er beim Schwimmen ans nächste Ufer, sein neues Ziel. Und dann passierte es, auf einmal war er da, fiel auf die Knie. Es ging so schnell, als wäre er geflogen. Dabei sah er komische Farben, die Welt sah so anders aus. So anders und dennoch bekannt. Verwirrt stellte er sich auf, schaute auf seine nassen Hände und verstand, was er getan hatte. Er konnte es, doch nicht nochmal. Seine Kräfte ließen wieder nach. Es kostete Energie.
Hinein in den Wald. Seine Füße schmerzten. Die Schläfrigkeit kehrte zurück, trotz dessen ging er stur weiter, immer weiter, und folgte einem tierischen Trampelpfad, der ihn einen Hügel hinauf brachte. An großen, uralten Bäumen kam er vorbei. Über flache Steine ging er, zwischen denen Gras wuchs. Ein Weg, kaum erkennbar wegen der vielen Pflanzen. Diesen nahm er mit schweren Schritten und dachte das erste Mal über alles nach. Er sah an sich herunter. Ihm fiel als erstes sein Name ein. Außerdem erinnerte der Wald ihn an einen anderen aus seinem Leben. Ein Ort, an dem er anscheinend öfter gewesen war. Ein liegender Baumstamm, Gestrüpp, ein winziger See, aus dem Tiere trinken, und weiches Moos, das sich anfühlt, als würde man auf Wolken gehen.
Der verlassene Pfad brachte ihn immer höher, so hoch, bis er das Laub der Bäume von oben sehen konnte. Einer Ruine kam er näher. Türme, alte Dächer, zerbrochene Mauern. Er hielt sich seinen brummenden Bauch, der ab und zu schmerzte, und ging durch ein halb zerstörtes Tor. Helle Steine waren aufeinander gestapelt. Goldene Mosaike zierten die Wände. Ein unnatürlich großer Baum ragte in die Höhe. Kaputte Statuen. Steine lagen auf dem Boden verstreut. Dreck und Erde, zerstörte Vasen, Spinnweben, Vogelnester. Es war ruhig, man hörte bloß die Vögel singen, Insekten summen und Wasser plätschern. Der Ort schien früher wunderschön gewesen zu sein, doch eines Tages wütete hier offenbar ein Krieg.
Er wanderte durch die Gänge. Sein Ziel: ein Fleck, an dem er ruhen kann. An ein einst prächtiges Wasserbecken setzte er sich, gefüllt mit Regenwasser, bewachsen mit Algen, Schilf und Seerosen. Quakende Frösche, die vor Schreck ins Wasser sprangen. Komische, ihm fremde Geschöpfe flogen oder kletterten umher, sie sahen aus wie aus einer anderen Welt. Eidechsen mit Fledermausflügeln. Insekten mit menschlichem Körperbau. Eichhörnchen mit blauem Fell und gelben Hörnern. Kleine flatternde Blüten im Wind. Ein Fisch mit Beinen, der im Teich untertauchte.
Hier war keine Menschenseele, nur er. Er stützte sich den Kopf, genoss den Anblick dieser zerfallenen Burg. In seinem Kopf tauchten Bilder auf von Gebäuden, von einer Kirche, von alten Häusern. Gefangen in seinen Gedanken. Die Fragen häuften sich.
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Sceya ging ins Bad, um sich dort zu entspannen. Sie wusch sich ihr Gesicht, trocknete sich ab, setzte sich ihre Brille wieder auf, denn sonst fände sie den Weg zurück zum Zimmer nicht. Sie schaute in den Spiegel, ein Anblick, den sie nicht mochte. Lange mochte sie nicht hinsehen. Immer wieder hörte sie diese Sprüche. Andauernd gafften Menschen sie an. Sie alle fragten sich, was das da für Streifen in ihrem Gesicht und am Hals seien. Sceya konnte den Rest ihres Körpers verstecken, doch nie ihre rechte Wange. Und jetzt im Sommer… Jetzt, wo bald die Hitzewelle kam… da würden noch mehr Menschen glotzen, auf ihren Hals, ihren Arm, ihre Beine… Aber sie konnte sich bei der Wärme nicht komplett vermummen. Noch war es nicht so warm, das sollte sich bald ändern. Wenn sie erstmal T-Shirt trägt, würden die Blicke zunehmen. Sie hasste den Sommer, sie hasste die Hitze, sie hasste es zu schwitzen, sie hasste den Sonnenbrand, sie hasste es, dass ihre Narben bei den Temperaturen stärker jucken und ziehen, und noch mehr hasste sie es, mehr von ihrem Körper preiszugeben.
In ihr Kinderzimmer kehrte sie zurück, auf ihren Drehstuhl, und schwelgte in Tagträumen. Die Ferien… Wie würden sie wohl ablaufen? Sicherlich würde sie auch mal ihre Bude verlassen, mal shoppen gehen, müsste einmal zum Arzt, würde mit ihren Eltern Verwandte besuchen oder zu ihrem Opa, um Dinge abzuholen. Es gäbe bestimmt ein großes Grillfest bei der Freundin ihrer Mutter, wo Sceya stumm rumsitzen wird und insgeheim nach Hause will. Sowas war immer langweilig, sie hatte da niemanden zum Reden und nur einen Hund zum Streicheln. Ihre vielleicht beste Freundin würde in den Urlaub fliegen. Ein perfekter Urlaub, weit entfernt, in schönem Ferienhaus mit Pool, mit wunderschönem Ausblick auf die Natur, mit leckerem Essen, glücklichen Geschwistern, glücklichen Eltern… Wie sehr sich Sceya das alles wünschte! Nichts davon bekam sie. Höchstens gutes Essen. Sie hatte Fernweh, und das seit Jahren. Sie wollte auf Reisen gehen mit ihrer kleinen Familie, vielleicht zusammen mit den Großeltern. All das wäre sowieso viel zu teuer für sie gewesen. Solch einen perfekten Urlaub hätten sie sich niemals leisten können. Doch hätte das Geld viel geändert? Nein. Ihr Vater wäre weiterhin derselbe schlecht gelaunte Kerl, der keine Lust hat, aufzustehen und der gleichzeitig nicht fit genug für eine Weltreise wäre. Es hätte sicher viel Streit gegeben, so wie im letzten Urlaub vor fünf Jahren. Mitten auf dem Marktplatz stritten die Eltern, und Sceya hätte sich am liebsten vergraben. Sie hielt Abstand, aber das Gemecker hörte man noch aus der Ferne und es war so peinlich. Das war keine schöne Woche gewesen, sie wollten eigentlich Spaß haben, etwas erleben, und das kam dabei raus. Sceya hatte sich lange auf diesen Urlaub gefreut und die Vorfreude auf den Freizeitpark war gewaltig, aber mit einer Mutter, die nicht schwindelfrei ist, und einem Vater mit Höhenangst, der in die Sitze nicht reinpasst und zweitens keine Lust auf gar nichts hat… Der Urlaub wäre schöner mit einem Geschwisterchen gewesen.
In der Ecke ihres Zimmers lagen weiterhin die Bücher, die sicherlich schon einstaubten. Irgendwann musste Sceya das erledigen, aufräumen musste sie eh. Auch die Bücher wollte sie da nicht liegen lassen, wollte sie wegräumen und schaute vorher alle an. Ein Buch über Vögel blätterte sie durch, sah sich hauptsächlich die Bilder an. Als ihr das nächste auf dem Stapel in den Blick fiel, ließ sie das jetzige liegen.
Es hatte kein Cover, war nur schwarz und sah alt aus, vergraut, zerkratzt. Sceya wischte den Staub mit einem Taschentuch ab, denn Wegpusten reichte nicht, der Dreck hatte sich längst in den kleinen Ritzen verfangen. Sie öffnete das Buch und ihr stieg direkt der alte DDR-Geruch in die Nase, sodass sie kaum Luft bekam und an ihren Inhalator denken musste. Das vergilbte Papier fühlte sich eklig an und saugte jegliche Feuchtigkeit aus ihren Fingerspitzen. Jedes Mal beim Umblättern drang ihr der Staub in die Lunge und förderte eine Hustenattacke. Schnell ergriff sie das Asthmaspray, machte ihr Fenster auf, und trotz der Tatsache, dass es stank, sah sie hinein in das seltsame Büchlein, mit etwas mehr Abstand. Hauptsächlich am Anfang des Buches lagen lose Blätter. Das Papier war leicht zerknickt, zerknittert und zerrissen, an den Rändern gelblicher. Eine alte, schnörkelige Handschrift, die schwer zu entziffern war. Es war mit Tinte und Füller geschrieben.
„Von wem ist das?“, fragte sich Sceya.
Sie drehte das Buch um und wunderte sich. Ein seltsames Zeichen war dort eingeritzt, wobei sie sich nicht erklären konnte, was es darstellen soll. Unten war ein Name, nicht der eines Fremden, nicht der ihrer kürzlich verstorbenen Oma, sondern der ihrer Urgroßmutter. Und eine Jahreszahl. Das Buch war ACHTZIG Jahre alt! Es war von 1947. Irgendein Notizbuch. Lose Blätter, dessen Stichpunkte wohl später ins Buch übertragen werden sollten. Uroma hatte es anscheinend vergessen, hatte keine Lust, keine Zeit?
Einige Zettel schaute Sceya sich grob an, überflog die Schrift, aber lesen konnte sie es eh kaum. Es langweilte sie. Ihre Konsole rief sie. Sie sah so lecker aus… Sceya seufzte. Tatsächlich war das Zocken das Einzige, was sie vorhatte, in den Ferien. Der einzige Plan. Sie wollte nichts lieber, als auf ihrem Hintern zu sitzen und zu spielen, den ganzen Tag. Musik hören, Videos gucken, mal ihre Freundinnen treffen, manchmal rausgehen und shoppen, doch vorwiegend zocken, mehr wollte sie nicht. Sie brauchte diese Ruhe, das Alleinsein und die Entspannung nach den anstrengenden Klausuren. Die elfte Klasse war schlimm genug. Dazu kam der Tod ihrer Oma. Dem Stress wollte sie entkommen und ihre Alltagsprobleme vergessen. Und das alles gelang ihr nur durchs Spielen. In eine andere Welt fliehen, in der es besser war als hier. Schöner, cooler, hübscher. Sie stellte sich vor, dort zu sein.
Ihren Blick schwenkte Sceya zum seltsamen Notizbuch und blätterte weiter. Zu sehen: grobe Zeichnungen von ausgedachten Tieren. Zack, sie wollte nicht mehr weggucken! Sie liebte Monster, Drachen und Fabelwesen und war daher schwer beeindruckt. Ihre Uroma liebte diese ebenfalls?! Hatte sie diese Faszination etwa von ihr geerbt? Sie las ein paar Zeilen unter dem Bild und musste Wörter mehrfach durchlesen, denn sie verstand nicht alles. Auf der nächsten Seite lächelte ein niedliches Ding sie an. Große Ohren, dunkle Kulleraugen, eine dicke Nase. Etwa ein Zwerg? Er trug eine Hose. Links ein Porträt, rechts der Größenvergleich mit einem Menschen. Was stand dort? Eine Bezeichnung von dem Ding? Mause… Mauseoh… Mauseohrgnom? Ein Gnom?
„Ein Mauseohrgnom. Auch Mauseöhr… 1,20 Meter… mit… Ohren und… Fle… Arbeiter… immer fröhlich und hilf… und… leben… wi…en Häusern.“
Sceya vergaß die Zeit, als sie umblätterte und Skizzen eines Drachen sah. Sie hätte ihre Uroma gerne besser kennengelernt, merkte sie in diesem Moment. Als sie fünf war, starb sie schon. Dieses Notizbuch stammte aus ihrer Jugend, also war sie vielleicht so alt wie Sceya gewesen, während sie das schrieb.
Sie schaute sich noch mehr Zeichnungen an. Eher wirkten sie wie Studien von echten Tieren als aus der reinen Vorstellung. Komische Kreaturen. Nixen, Kobolde, Gnome, Trolle, Drachen und andere Fabelwesen, von denen Sceya entweder kurz oder gar nicht gehört hatte. Tinte bekleckerte einst das Blatt, welches sie gerade betrachtete, und machte es schwer, Sätze zu lesen. Zudem kam die Schwierigkeit, die Schrift zu entziffern. Einzelne Wörter musste Sceya sich entweder dazu dichten oder es im Kopf umschreiben. Es war nicht leicht.
„Einhörner… es nicht… nicht viele… wie… Fabel… von den Menschen gejagt.“ Fabel? Fabelwesen? „Ein Greif… hier in Ve… Weibchen… aus H… für ihn gesucht.“ Daneben war eine weitere Skizze.
Sceya schlug eine Seite auf, auf der keine Bilder zu finden waren. Die Zeichnungen waren für sie von Interesse, sie hätte sie ewig anschauen können. Eine Frage aber stellte sie sich: was stand alles geschrieben? Sie konnte nicht ahnen, was sie noch in dem Buch finden würde.
Sie war nur verwirrt. Las sie das richtig? „…jedem Körper anpassen… meistens einen aus, der ihrem früheren ähnlich…“
„Hä?“, flüsterte sie.
„Hinsichtlich der Tierart oder des Geschlechts… aus Gewöhnung… meistens nicht weit… oft in… ihres Todes wieder…en.“ Sceya las mit Mühe immer weiter. „Suchende… magisch angezogen… suchen sich… eine Familie und warten… schwanger…“ Es war fast unmöglich, die meisten Wörter waren undeutlich geschrieben. Es sah schön aus, lesbar war es nicht. „Lange… Geisterwelt zu bleiben… Kopf… Übelkeit und einem Druckge… anstrengend. V… Lernen er…lich.“
Sceya war fasziniert, aber kapierte es nicht. Letztlich schaute sie auf die erste richtige Seite des Buches.
Direkt der erste Satz ließ sie aufhorchen: „Alles, was in… Buch geschrieben… Realität und ist keine… Es… kein Hirnge…, sondern… volle Realität, ob man es glauben mag oder nicht.“
Ab sofort bekam das Buch ihre volle Aufmerksamkeit. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. Kobolde? Wie können denn bitte Kobolde real sein?
„Ich möchte… meine… festhalten. Es ist mehr als… buch, sondern… die ich eines Tages… Enkelkindern teilen möchte. Meine Eltern möchten wegziehen. Ich… am liebsten… doch ich darf nicht.“ Uroma wollte es immer erzählen? Warum tat sie es nie? Wieso blieb dieses Buch geheim?
Eine halbe Seite war freigelassen, vielleicht um später etwas zu ergänzen. Auf der nächsten sah Sceya erneut dieses seltsame Zeichen. Ein Kreis mit einem Strichmännchen darin? Für sie sah es aus wie vier Luftballons, die derjenige hält oder die an ihm festgebunden sind. Der große in der Mitte sah aus wie ein Lolli. Oder ein Krake. Ein Mensch mit vier Armen. Es nützte nichts, sich auszudenken, was es denn sein könnte. Sie musste durchlesen, was daneben stand.
„Ich muss von… anfangen. Links zu… ist eine Hexe.“
Hexen, jetzt auch noch Hexen? Was soll noch kommen? Und da kehrte Sceya zurück in die Realität. Es war nicht echt. Es war nur ausgedacht. Egal, was ihre Uroma im ersten Satz geschrieben hatte. Es konnte nicht echt sein.
„Mittig zu… die Seele des Menschen. Die vier… ihre… Gr… geister.“
Was für Geister? Mensch, ihre Urgroßmutter musste wohl eine blühende Fantasie gehabt haben! Wieso hatte sie aus dem Talent nicht mehr gemacht? Und warum hatte sie es nicht vererbt? Manno…
„Es ist das Zeichen un… Stadt… Mes…“
Sceya musste sich bemühen, das folgende Wort zu lesen.
„Yesl…“ Nein, ein V! „Vers…“ Es klang nicht normal. „Vesti… Vestu…“ Es war nicht deutsch, es war sicher kein echtes Wort. „Vesturlll?“ War das der Name der Stadt? „Vestrial?“
Sceya hielt das Buch immer dichter, starrte auf den Namen und begriff endlich, was da stand. Sie flüsterte das Wort „Vestriell.“ Doch sie wusste nicht, wie man es ausspricht: „Weh-schtriel.“
Es klang spannend, also las sie weiter. „Im Süden von Deutschland… Alpen, da liegt… Bergen und Wäldern. Und zwar sehr gut verst… Wäch… und eini… Hexen achten… dass kein Mensch zu … kommt. Man findet nur… man eine gute Seele sein und sich… erweisen… den Weg kennen. Zeichen … auf einen… Stein m…en muss… Zugang zu erhalten.“
Sceya las und las und dachte nicht daran, wie schnell die Zeit vorüberging. Sie hatte lange nichts mehr gelesen, und dann mit solch einem Elan! Jetzt sogar ohne Musik in den Ohren. Eine Stunde verging, bis sie es merkte, diese Stille. Es war so ruhig, und das war seltsam. Sie fühlte sich gerade wie im Wartezimmer und hasste dieses Gefühl. Schnell griff sie nach dem Handy, den Kopfhörern und schmiss ihre Musik an. Und bevor sie weiterlas, schnappte sie sich was zum Naschen, weiße Schokolade.
„Ich frage mich, was d… mit Körper, Geist UND Seele meinen? Wenn… einen Geist… entweder… ihm besessen oder eine Hexe.“
Sie fand es spannend, auch wenn sie wusste, dass es nur philosophische Theorien ihrer Uroma waren. Das war interessanter als alles, was sie in den letzten 3 Jahren in der Schule lernen musste.
„Doch was… nun gut für Körper und Geist? Genau ge… sind wir alle… lebende Wesen ist ein Geist, das Bes… von einem Körper übernommen… noch im… der Frau oder einem Ei… Körper ist… Geist beziehungsweise Seele nicht lebensf… All die Märchen und… welchen Menschen ihre Seele verkaufen oder abg… oder… über seelenlose Gesc… sind weiterhin… Märchen… menschlicher Körper stirbt in dem Au… in welchem er se… verliert. Im besten Fall tritt das… oder… dank… von außerhalb noch auf… Weise weiterleben. Al… ohne nachzudenken… seine Sinne… zu können, ohne seinen eig… Leib… kon… zu können. Sie sind sehr schwach, können… den Beinen stehen, können keine Wör… den Stuhl, auf das Bett und ihre Pfl… ange… Sie sind mehr tot als lebendig… eine Seele, um einen Körper zu kon…“
Sceya konnte nicht aufhören, sich das durchzulesen, obwohl wenn sie lediglich einen Bruchteil davon verstand.
„Wieso nennt… Graugeister? Aus dem Grunde… sie es sind. Sie sind nicht weiß, nicht… nicht gut und nicht… Sie sind das … aus ihnen macht.“
Sie verlor die Lust, die Konsole anzumachen, vollkommen.
„Nur dank Graugeister wird ein Mensch… Nur dank… zaubern, kann Objekte oder sich selbst… lassen, kann… kann and… heilen oder ins Jen… blicken. Man kon… sie, lässt… tun. Ein Mensch alleine, ohne Graugeister, kann nicht… Man… einen Bezug zur Geisterwelt und diesen… man nur… Geist. Die Geisterwelt, das Jen… der Himmel und die Hölle, das Para… Walh… Ort, an dem alles Lebende und Tote… kann. Man sieht die Seelen, die die Körper k… Man sieht… flie… Kugeln… Seelen, die… Suche… einem Körper sind. Und… Obje… aus dem Diesseits… Sie… grau, transparent… ohne Seele. Die Natur… sie… eine. Nur wegen ihr gla… Himmel sei… da sie in si… Farbe…“
Auf der nächsten Seite ging es weiter, auf einem losen Blatt Papier.
„Nicht jede frisch ge… Seele mag… von… Form, ihrem früh… Körper trennen… entweder durch die Orte, an… sie starben oder blei… in der Nähe ihrer Liebsten. Sehen aus… an… letzt… und tragen ihre Kleidung. Sie fi… keine Ruhe. Sie sind… brauchen Hilfe… außerhalb, um loszu…“
Sceya erschrak, als sie ein leises Knarzen aus der Richtung der Tür hörte, und wurde nervös. Es soll also Geister geben? Und diese können jederzeit unter uns sein? Hatte sie das richtig verstanden? Sie war sich nie sicher, ob sie daran glaubt. Oft hatte sie mit anderen darüber geredet, hörte auch von Verwandten einige Geschichten über Geister. Sie wollte aber nicht wie ein Freak rüberkommen, also sagte sie nie, dass es in ihrem Zimmer eventuell spukt. Sceya’s Angst vor Gespenstern fing in der Kindheit an. Im Krankenhaus, als sie wochenlang im Bett lag, hörte sie Geräusche.
Da erklärte Ira: „Das sind die Patienten in den Nebenzimmern, alles gut!“
Greo dagegen meinte: „Du denkst dir das aus, Sceya. Da ist nichts.“
Als sie älter wurde, dachte sie, es hätte an den Schmerzmitteln gelegen. Doch auch zuhause änderte sich nichts. Mal sah sie, dass ihr Schrank plötzlich offen war. Mal öffnete sich ihre Tür mitten in der Nacht. Sie hasste ihr Radio, da es gerne von alleine anging. Greo meinte, das Ding sei kaputt. Vielleicht lag es am Handy, an anderen Geräten. Aber wie erklärt man dieses leise Klopfen an der Wand, das sie manchmal hörte? Sie hörte öfter, wie jemand im Flur auf und ab ging. Greo meinte, das wären bloß die Nachbarn. Öfters erschrak Sceya, weil sie Schatten sah. Nachts sah sie einmal im Blickwinkel eine junge, weiße Gestalt im Dunkeln. Am Morgen glaubte sie, das erträumt zu haben. All diese Ereignisse, die immer wieder geschahen, führten dazu, dass Sceya Angst hatte, zuhause allein zu sein. Allerdings fühlte sie sich nie allein. Es war, als wäre immer jemand da, als wäre jemand in ihrer Nähe, den sie nicht sehen konnte. Sie betrat ihr Kinderzimmer, schloss die Tür und es fühlte sich immer so an, als sei jemand mit ihr im Raum. Dieses Gefühl ging nie weg, und es war widerlich. In anderen Räumen war es nicht so schlimm. Im Badezimmer hatte sie wirklich ihre Ruhe. Ihre Eltern dagegen waren nicht von diesem Problem betroffen. Sie spürten nichts. Sie hörten nichts. Sie sahen nichts. Im Gegensatz zu ihrer Tochter kam es ihnen nicht so vor, als würde es in ihrer Wohnung spuken. Sceya konnte sich all das nicht erklären und bekam auch keine Erklärung von jemand anderem. Wenn sie es erzählte, dachten alle, es läge an ihrer Fantasie. Vielleicht war sie allgemein ängstlich und würde sich vor Dingen erschrecken, die nicht da sind. Vielleicht war sie bloß paranoid. Vielleicht waren es die Ängste, die in ihr schlummerten. Vielleicht waren es Medikamente. Vielleicht war es das Trauma aus der Kindheit.
Sceya schaute nicht mehr auf die Notizen, sondern achtete auf die Musik in ihren Ohren, die sie an all das denken ließ. Sie dachte an früher und wieder an Mivee. Es verging kaum ein Tag in ihrem Leben, an dem sie nicht an den Hausbrand, den langen Aufenthalt im Krankenhaus oder an den Tod ihrer Schwester dachte.
Als sie schlafen wollte, spürte sie erneut diese Präsenz. Aus der Nähe des Notizbuches auf ihrem Tisch hörte sie kurz das Quietschen der Holzdielen. Sceya machte die Nachttischlampe an. Dort war natürlich nichts, und dennoch spürte sie jemanden.
In Gedanken fragte sie: „Bist du das… Mivee?“ Stille. Danach flüsterte sie: „Mivee?“
Wieder nichts. Sie machte das Licht aus und konnte nicht schlafen. Sie dachte zu viel nach. Vielleicht machte das Buch ihre Paranoia schlimmer? Aber wie kann Paranoia Türen öffnen? Können das Medikamente? Können das Depressionen? Sie wünschte sich, wenigstens zu wissen, ob Mivee noch da war. Sie wollte sie sehen, ihr einmal gegenüberstehen. Wahrscheinlich redete Sceya sich bloß ein, dass Mivee ein Geist war und in ihrer Wohnung spukte. Sie dachte an das Buch, ob das Geschriebene wirklich echt ist. Ob echt oder nicht, sie freute sich auf den nächsten Tag und aufs Weiterlesen.
Ängstlich krallte sie sich ins Kissen, nachdem sie das Bett an ihren Füßen knirschen hörte. Ihr war kühl, sie fühlte sich beobachtet.
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Er lag beim Teich, öffnete die Augen. Erneut hatte er geschlafen. Sein Traum ging ihm nicht aus dem Kopf und führte dazu, dass er sich stückweise erinnerte. Er spürte es, als würde es wieder geschehen…
Schnell richtete er sich auf, war schwächlich vom Schlaf. Wenigstens ging es ihm besser. Langsam ging er voraus, nahm eine Treppe und schaute hinunter auf den Wald. In der Ferne leuchtete die Stadt. Um die Ruine herum war es dunkel, nur eine Stelle nicht. Ein helles orange-gelbes Licht. Feuer, ganz klein dort zwischen den Bäumen.
Trotz der Entfernung sah er das Pärchen klar und deutlich. Die zwei saßen neben ihrem Zelt vor dem Lagerfeuer. Er sah das leckere Essen, würde am liebsten zubeißen. Sein Hunger war ausnahmsweise groß, trotz der Bauchkrämpfe, die ab und zu aufkamen. Er hatte lange nichts gegessen, sein Magen war leer.
Das Paar redete viel, sie lachten, kuschelten sich aneinander, küssten sich … Eilig guckte er weg, spürte ein Gefühl der Wut in sich aufkochen. Ihn ließen diese Gedanken nicht los. Andauernd ploppten neue Bilder vor seinem geistigen Auge auf. Die blonde Frau erinnerte ihn an eine andere und er verstand es erst nicht. Zugleich überkam ihm eine seltsame Traurigkeit, je deutlicher diese Bilder wurden. Er sah sie tot in seinen Armen… und erschrak. Immer mehr Erinnerungen kehrten zurück. Er wollte das nicht. Er wollte, dass es aufhört.
Das Paar ließ das Essen außer Acht, gab sich stattdessen der Liebe hin. Ihr Beobachter schüttelte den Kopf, mochte das nicht sehen, doch konnte es nicht verhindern, als stände er direkt vor ihnen.
Der Mann ließ von ihr ab und sie war verwirrt wegen seines Gesichtsausdrucks. „Hase? Ist was?“
Er blickte beiseite und lauschte. „Ich weiß nicht, ich… äääh… Spürst du d…“
Er wurde von ihr weggezogen, prallte gegen einen Baum. Sie dagegen wurde von unsichtbaren Händen ins Feuer geworfen. Ihr Freund hörte ihre Schreie, riss eine Hand in ihre Richtung, jedoch schaffte er es nicht, etwas zu tun. Seine Lebenskraft verließ ihn plötzlich und mit jeder Sekunde fühlte er sich schwächer. Auf dem Boden kauerte er, konnte nicht einmal rufen, konnte nur zusehen. Die Gegend schien dunkler zu werden, trotz des hellen Feuers. Da waren goldene Punkte im Wald, die stets näher kamen. Mehrfach schlug der Mann mit dem Kopf auf der Erde auf und er konnte sich nicht wehren, ebenso wenig wie seine Frau es konnte. Niemand auf der Welt eilte zur Hilfe. Ihr beider Tod war gewiss.
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3.Mehr als nur ein Märchen?
31.05.2027 Montag
Ihr wollt wissen, wie's weitergeht? Ich muss euch zweimal enttäuschen. Das restliche Buch ist hinter einer Paywall versteckt. Zweite Enttäuschung: es dauert noch ein Weilchen.
Hier erfahrt ihr schon etwas mehr.
Und hier könnt ihr euch über meine bereits veröffentlichten Bücher informieren. Bevor Vestriell erscheint, habt ihr noch etwas Zeit, um die anderen Bücher zu lesen ;p
Ihr wollt rechtzeitig erfahren, wann Vestriell erscheint? Dann habe ich mehrere Möglichkeiten für euch:
1. Ihr schaut jeden Tag persönlich auf dieser Seite nach, bis euch das ständige Nachgucken auf die Nerven geht.
2. Ihr schaut jeden Tag auf meinem Instagram Account vorbei. Du hast kein Instagram? Ich poste das meiste hinterher auch auf Facebook, bin dort allerdings nicht sehr aktiv.
3. Ihr meldet euch für meinen Newsletter an. Das ist eventuell die sicherste Methode. Keine Sorge, das kostet nichts^^
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